Kapitel 17
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„Wir fuhren fünf oder sechs Tage mit dem Güterwagen. Viele Gefangene waren krank oder lagen im Sterben. Der Zug blieb oft stehen und wir hofften auf Wasser oder die Chance, den Latrineneimer zu leeren. Stunden wurden zu Tagen und ich verlor mein Zeitgefühl. Schließlich, nach einem extrem langen Aufenthalt, wurden die Türen aufgeschoben. SS-Wachen standen draußen, mit Pistolen/Gewehren und Peitschen bewaffnet; sie drohten, schrien und befahlen uns hinauszuspringen. Wir fielen und stolperten auf den Boden. Wir waren an einem kleinen, verlassenen Güterbahnhof. An den Wänden des Bahnhofs war auf weißen Schildern mit schwarzen Buchstaben „Colmar“ geschrieben. Dieser Name sagte mir nichts – aber ein paar Männer in unserer Gruppe wussten, wo Colmar war und in unseren Reihen verbreitete sich das Wort „Frankreich“ im Flüsterton.
Unsere Wachen stellte uns mithilfe von Peitschenhieben und Tritten in Fünferreihen auf. Unter ihrem Kommando marschierten wir aus dem Bahnhof hinaus und in die stillen Straßen der Stadt. Die Wachen schrien und drohten uns. Wir versuchten im Gleichschritt zu gehen, um Tritte und Schläge zu vermeiden.
Wir kamen in einen älteren Teil der Stadt. Unsere holzbesohlten Schuhe verursachten ein lautes Geklapper auf den Kopfsteinpflasterstraßen. Hier und dort öffnete sich ein Fenster und Leute lehnten sich heraus und sahen auf uns herab. Wir müssen ein außergewöhnlicher Anblick gewesen sein: vier- oder fünfhundert bis auf die Knochen abgemagerte Männer mit rasierten Köpfen, in zerlumpten gestreiften Konzentrationslageruniformen, die stolpernd versuchten, unter den Gewehren und Hieben der Wachen Schritt zu halten.
Wir marschierten weiter. Allmählich gelangten wir von den Seitenstraßen mit Kopfsteinpflaster zu breiteren Straßen in der Stadtmitte. Dort gab es Läden, Wohnhäuser und offiziell aussehende Gebäude, die mit Nazifahnen und Hakenkreuzen geschmückt waren. Leute bummelten und gingen, fuhren auf Fahrrädern und in Wagen. Unsere Marschkolonne schien auf dem Platz von großer Bedeutung zu sein. Die Leute auf den Straßen und Gehwegen blieben stehen. Sie stiegen von ihren Fahrrädern ab. Bald schon säumte eine Gruppe von Leuten, Schulter an Schulter, die Straße und beobachteten uns. Die Wagen blieben stehen und die Fahrer stiegen aus. Fenster und Türen öffneten sich und Hunderte von Menschen schauten zu. Ich hatte solche Menschenmengen schon zuvor gesehen. Sie hatten zugesehen, wie wir durch ihre Städte und Dörfer getrieben wurden. Sie waren immer höhnisch und feindselig. Am Anfang war die Feindseligkeit verletzend, aber ich kümmerte mich nicht länger darum.
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Unsere Kolonne näherte sich einem offiziellen Gebäude, das mit der Nazi-Fahne behangen war. „Mützen ab!“, schrien die Wachen. Wir rissen uns die blau-weißen Gefängnismützen herunter. Wir gingen an dem Gebäude vorbei und die Wachen befohlen: „Mützen auf!“. Wir stülpten uns die Mützen auf und versuchten gleichzeitig Schritt zu halten.
Seltsamer Lärm und Geflüster erhoben sich von den Leuten, die uns zusahen. Unsere Kolonne näherte sich einem anderen offiziellen Gebäude. Wieder kam das Kommando: „Mützen ab!“. Wieder gehorchten wir. Der Lärm der Menge wurde lauter und wütender. Wir hörten wütende Rufe auf Französisch und Deutsch. Ich verstand die deutschen und konnte deutlich hören, wie die Leute riefen: „Schande! Schande!“. Ich warf einen Blick auf die Menge, um ihren Ruf zu verstehen. Wir gingen an einem anderen offiziellen Gebäude vorbei und durch die Rufe der Menge konnte ich hören, wie die Wachen wieder befohlen: „Mützen ab!“. Schnell zogen wir unsere Mützen ab. Die Leute auf den Gehwegen, auf der Straße, in den Wagen, in den Fenstern, die Leute überall begannen zu klatschen. Das Klatschen begann langsam und schwoll schnell zu einem trotzigen, ununterbrochenen Tosen an. Ich begriff, dass etwas Unglaubliches geschah. Die Leute von Colmar waren auf unserer Seite! Ihre „Schande“-Rufe waren an die Deutschen gerichtet! Sie schrien mit zunehmender Wut. Es war ein Geschenk, ein Wunder. Die Leute von Colmar spürten unseren Schmerz und spendeten uns Trost, sie sahen die Ungerechtigkeit und protestierten, sie sahen unsere Verzweiflung und gaben uns Hoffnung.
Unsere Wachen reagierten nervös. Sie senkten ihre Waffen und hetzten uns durch die Straßen. Sie befahlen uns nicht mehr, unsere Mützen abzunehmen, um die Nazifahnen zu grüßen. Die Leute klatschen und schrien weiter und als wir an ihnen vorbeikamen, begannen einige Brot, Obst und Zigarettenpakete in unsere Marschreihen zu werfen. Wir wagten es nicht, unter den wachsamen Augen und Waffen der SS etwas aufzuheben. Die Unterstützung und das Mitgefühl waren wichtiger als Essen. Ich drehte mich zu den Zuschauern um und zeigte ihnen mein zerschrammtes und tränengefülltes Gesicht und lächelte ihnen durch meine zerbrochenen Zähne zu. Wir marschierten aus der Stadt, aber die Rufe der Menschen und die Erinnerung an ihre Güte blieb bei uns.
Wir erreichten den Stadtrand von Colmar. Wir kamen zu einem kleinen, leerten Lager mit ein paar Baracken auf einem grasbedeckten Grundstück, das von Stacheldrahtzäunen umgeben war. Wir gingen durch ein Eisentor und die SS-Wachen übergaben uns an ein Kommando von Luftwaffe-Soldaten und ihrem Feldwebel (sergeant). Der Feldwebel stand dabei, während wir gezählt und dann auf die Baracken aufgeteilt wurden. Er sagte, dass es in den Latrinen Wasser zum Trinken und Waschen gebe und dass wir später am Tag oder am nächsten Morgen Essen gekommen würden. Die Luftwaffe-Soldaten schlossen uns in den eingezäunten Hof ein und blieben außerhalb des Stacheldrahtzauns.
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Im Colmar-Lager gab es keine Deutschen oder Kapos. Wir wurden ganz allein gelassen. Ich rannte mit den anderen Gefangenen zur Latrine, um Wasser zu finden. Wir standen dort und tranken und gossen das kühle Wasser über unsere heißen, schmutzigen Körper. Ich hatte großen Hunger und war völlig erschöpft. Ich ging zu meiner Baracke und fand eine leere Pritsche. Ich schlief sofort ein und schlief bis ich von einem schrecklichen Hunger geweckt wurde. Viele Gefangene schliefen. Ich ging hinaus in die dunkle Nacht und ging zu den Gefangenen, die beieinandersaßen und sich leise unterhielten. Ich sah ein paar Männer von Tyczyn beim Stacheldrahtzaun und setzte mich zu ihnen. „Nein, es sieht nicht so aus, als würden wir heute etwas zu essen bekommen“, sagte eine mit Bedauern gefüllte Stimme. „Ich weiß nicht, ob ich bis morgen überleben werde.“ „Das wirst du, das wirst du.“, antwortete ein andere Gefangener. „Der Deutsche hat versprochen, wenn sie uns heute nichts zu essen geben, geben sie uns am Morgen etwas.“ „Seit wann können wir den Deutschen glauben?“, fragte ein anderer Gefangener. „Haben wir eine andere Wahl?“
Das Gespräch ebbte ab und wir saßen still in der Dunkelheit. Ich hatte Hunger und machte mir Sorgen über den nächsten Tag, aber zum ersten Mal seit langem konnte ich einfach ruhig dasitzen und ausruhen. Bald war es ganz dunkel. Ein Gefangener fragte: „Weshalb haben sie uns hierhergebracht? Nichts ist fertig/bereit und niemand ist hier. Haben sie Arbeit für uns?“ Diese Frage beschäftigte mich auch. Eine bekannte Stimme antwortete: „Ich habe jemanden sagen gehört, dass das ein Übergangslager ist und dass sie uns hierbehalten, bis ein anderes deutsches Arbeitslager für uns fertig ist.“ Wir saßen still zusammen, jeder in seinen eigenen Gedanken und mit seinen eigenen Sorgen. Die Nacht war warm und keiner ging weg zu den Baracken. Plötzlich hörten wir einen dumpfen Aufprall/Schlag. „Was war das? Was war das?“, fragten wir einander. Wir krochen auf dem Boden und tasteten im Dunkeln herum und dann schrie ein anderer Gefangener: „Mein Gott, mein Gott, es ist ein Laib Brot.“ Er hielt ihn hoch. Noch ein Laib landete in unserer Mitte. Jemand warf Essen über die Stacheldrahtzäune! Wir hatten unsere Metalllöffel aus Flossenbürg, die meisten mit einer heruntergebogenen Seite, die zu einer Art Messer geformt war. Wir schnitten das Brot mit unseren Messern auf und teilen die Stücke zwischen uns auf. Ich riss das Brot in kleine Stückchen und aß es. Es war nicht das schimmlige Lagerbrot, sondern ein knuspriger, frischer Laib echten Brotes.
Am nächsten Morgen brachten uns die Wachen in Scheiben geschnittenes Lagerbrot und trüben Ersatzkaffee. Wieder ließ man uns allein in dem kleinen eingezäunten Hof herumstreifen. Am späten Nachmittag kamen die Wachen mit einem großen, rostigen Kessel mit einer wässrigen Brühe aus Zwiebeln und ein bisschen Gemüse zurück. Ich hatte schmerzhaften Hunger. Bald begannen einige Gefangene, die Wurzeln von Gras und Unkraut heraufzuziehen und zu essen. Die Wurzeln waren dünn und klein und sie schmeckten bitter, aber sie waren essbar und alles, was wir hatten. Ohne zu denken, lief ich über sie und begann Unkraut zu pflücken, um es zu essen. Die Deutschen blieben draußen und hielten uns nicht davon ab, das Gras zu essen. Nach nur wenigen Tagen, war die kleine Grasfläche kahl und braun. Danach hatten wir nichts mehr zu essen außer die mageren Rationen, die uns die Luftwaffe-Wachen brachten.
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Wir traten zwei Mal am Tag zum Appell an. Wir putzten die Baracken, den Waschraum und die Latrine, hatten aber ansonsten keine Arbeit. Ich war froh, dass ich die Möglichkeit hatte, mich auszuruhen, aber besorgt, dass die Deutschen beschließen würden, dass unsere Leben ohne Arbeit nutzlos seien.
Eines nachts/abends nach dem Abendappell, erzählte uns der Luftwaffenfeldwebel, dass wir am nächsten Morgen bei Tagesanbruch in ein Arbeitslager namens Urbis bei Colmar verlegt werden würden. Wir hatten nur wenige Stunden, um uns auf den Abmarsch vorzubereiten. Ich hatte nur die Uniform auf meinem Rücken, meine Holzschuhe, meine Suppenschüssel und meinen Löffel. Ich könnte jede Minute abmarschieren. Bevor wir die letzte Nacht in Colmar schlafen gingen, machten meine Freunde und ich uns darüber Sorgen, welche Art von Arbeitslager es sein würde, zu dem man uns schickte. Wir hofften, dass Urbis kein Vernichtungslager mit Massenhinrichtungen und Gaskammern sein würde. Wir überzeugten uns selbst, dass das unwahrscheinlich sei, da wir nicht mehr unter Bewachung der SS, sondern von Luftwaffe-Soldaten waren.
Wir marschierten in der Dämmerung auf dem Colmar-Lager ab. Dieses Mal marschierten wir über Nebenstraßen zum Bahnhof von Colmar und vermieden die Stadtmitte. Zu dieser frühen Stunde war niemand auf den Straßen. Der Lärm unserer Holzschuhe auf dem Kopfsteinpflaster rief die Menschen an ihre Fenster, wo sie auf Französische riefen, was ich nicht verstand. Am Bahnhof befahl man uns, schnell in die Güterwagen einzusteigen. Die Türen wurden geschlossen und der Zug setzte sich sofort in Bewegung. Nach ein paar Stunden blieb der Zug stehen. Die Türen wurden geöffnet und Luftwaffe-Wachen befahlen uns auszusteigen. Dieses Mal war es uns erlaubt hinauszuklettern und einander hinunterzuhelfen, ohne dass man uns verfluchte oder schlug. Wir stellten uns in Fünferreihen auf und der Feldwebel zählte uns. Niemand fehlte und keiner war gestorben. Er gab uns den Marschbefehl.
Wir verließen den kleinen Bahnhof in Begleitung der Luftwaffe-Soldaten und marschierten entlang einer verschlungenen Straße, die mit dichten Wäldern, bestellten Feldern und Obstgärten voller Äpfel gesäumt war. Um uns herum waren mit Wäldern und Wiesen bedeckte Hügel, wo Schafe und Ziegen in der Sonne grasten. Es was ein unglaublich schönes Bild. Ich wünschte mir so sehr, in die Hügel zu rennen und frei zu sein. Wir marschierten im Gleichschritt und in Aufstellung.
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Nach ungefähr einer Stunde kamen wir zu einem Weiler mit alten Bauernhäusern. Einige Bauern standen am Straßenrand und beobachteten uns still, als wir vorbeimarschierten. Wir gingen durch ein kleines Dorf und kamen zum Konzentrationslager. Es war ein kleine, von Stacheldrahtzaun umgebenes Lager mit ein paar hohen, hölzernen Wachtürmen. Wir sahen nur ein paar baufällige Baracken und keine Fabriken, Baustellen oder Arbeitsplätze (work areas). Wir gingen durch das Lagertor. Zwei Deutsche in Zivil und mehrere Männer in SS- und Luftwaffe-Uniformen erwarteten uns. Einer der Zivilen kam mir bekannt vor. Ich erinnerte mich, dass ich ihn am Reichshof Flugmotorenwerk gesehen hatte, wo er ein Daimler-Benz-Beamter/Funktionär (official) gewesen war. Er trat vor unsere Gruppe und erzählte uns, dass wir in einer Daimler-Benz-Fabrik in der Nähe des Lagers arbeiten würden. Wir würden eine ähnliche Arbeit verrichten, wie in der Daimler-Benz-Fabrik in Polen. Für Daimler-Benz zu arbeiten war besser als in einer Mine oder in einem Steinbruch zu arbeiten. Wir wurden in zwei Gruppen eingeteilt, um die 12-Stunden-Tag- und -Nachtschichten zu arbeiten. Wir gingen in die uns zugewiesenen Baracken und nachdem man uns ein Eckchen Brot zum Abendessen gegeben hatte, krochen wir auf unsere Pritschen und schliefen ein.
Sehr früh am nächsten Morgen, nach dem Appell und einer weiteren mageren Morgenmahlzeit, sammelte sich die Tagesschichtgruppe in Formation und marschierte zum Tor hinaus. Die Luftwaffe-Soldaten standen am Lagertorwache, während die SS unsere Formation begleitete. Wir gingen ungefähr zwei Meilen eine enge Schotterstraße entlang. Die SS schien uns direkt auf eine steile Bergwand zuzuführen. Ich war beunruhigt. I wusste, dass Juden oft an Mauern oder Bergen exekutiert wurden. Wir waren nur wenige Fuß vom Berg entfernt, als ich eine enge, tunnelähnliche Öffnung in der Bergwand sah. Bewaffnete Soldaten standen wachen, als die SS und in den dunklen Tunnel führte. Ein paar schwache elektrische Lichter hingen in der Dunkelheit. Die Wände des Tunnels waren rau und nass. Die Luft war abgestanden und schimmlig und verschlechterte sich je weiter wir in den Tunnel vordrangen. Nach einer halben Meile wurde die Beleuchtung plötzlich besser. Eine Gruppe von Zivilisten stand an eine Reihe von Drehmaschinen und Standbohrmaschinen. Die Fabrik war in diesem unvollendeten Eisenbahntunnel. Die Deutschen zivilen Vorarbeiter und Aufseher (supervisor) fragten uns, welche Arbeit wir in der Reichshof-Fabrik ausgerichtet hatten. Ich erzählte dem Aufseher, dass ich Drehmaschinen und Standbohrmaschinen bedient hatte. Er befahl mir und einem anderen jüdischen Gefangenen, ihm zu folgen. Wir gingen tiefer in den Tunnel, an langen Reihen von Maschinen vorbei, die von zivilen Arbeitern und Männern in einer Art Marineuniform bedient wurden.
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Nachdem wir ungefähr eine Meile gegangen waren, hielt uns der Deutsche zwei großen, komplizierten Standbohrmaschinen an. Er sagte: „Hier machen wir die wichtigste Arbeit. Die Hauptflugzeugmotorblöcke (main airplane engine blocks) werden an diesen Maschinen gebohrt (drill), gebohrt (bore), poliert und nachgebohrt. Euer Vorarbeiter wird euch sagen, was ihr tun müsst und wie diese Maschinen bedient werden. Wir erwarten, dass die ganze Arbeit in weniger als neun Stunden ausgeführt wird. Wenn ihr es nicht schafft, werden wir jemand anderen finden und euch nach draußen versetzen. Wenn ihr achtlos seid und einen Motorblock beschädigt, werdet ihr der Sabotage beschuldigt!“ Er ging davon. Der andere Mann war ein jüdischer Uhrmacher von Przemyśl, den ich in meiner ersten Woche im Rzeszów-Lager getroffen hatte.
Ein deutscher Vorarbeiter kam herüber und zeigte uns hastig, wie der kleine Kran dazu benutzt wurde, um einen Motorblock auf den Bohrmaschinentisch zu heben, und wie die Maschinen bedient wurden. Er gab uns eine Liste mit Arbeitsabläufen, die an jedem Motorblock ausgeführt werden mussten, und erklärte uns kurz, was wir tun sollten. In den nächsten Stunden konnten wir um Hilfe bitten, aber er erwartete, dass wir die Arbeit an einem Motorblock vor Ende des Tages vollendeten würden. Als er wegging, sagte er: „Von morgen seid ihr allein. Wir werden sehen, ob ihr dreckigen Juden so klug seid wie ihr denkt.“ Ich schaltete die Maschine ein und begann zu arbeiten. Zusammen mit dem anderen Gefangenen arbeitete ich daran, die Anleitungen zu entziffern und kurz darauf begannen wir, Löcher zu bohren und Öffnungen nachzubohren/zu erweitern. Wir schlossen die Arbeit an unseren Motorblöcken bevor Ende der Schicht ab. Ich wusste, dass ich die Arbeit innerhalb der zugeteilten neun Stunden vollenden konnte.
Die Arbeit in der unterirdischen Fabrik war einfacher als das Schieben von Wagen voller Steine und das Tragen von Körpern in Flossenbürg. Aber die langen Tage in dem nassen und kalten Tunnel voller schimmeliger Luft erschöpften mich und meine Gesundheit litt darunter. Am Ende jeder Schicht eilte ich zur Öffnung des Tunnels, um saubere Luft zu atmen und mich aufzuwärmen. Im Lager aß ich schnell, sprach mit meinen Freunden und ging schlafen.
Eines Nachts waren die Nachtschichtarbeiter am Lagertor, bereit zum Abmarsch zur Tunnelfabrik. Das Lagertor war unverschlossen und einen Spalt offen, damit die Nachtschicht das Lager verlassen könnte. Ein junger, blonder Luftwaffe-Soldat stand Wache. Er war dafür bekannt, die Gefangenen menschlich zu behandeln. Er gab einem jungen, jüdischen Gefangenen ein Zeichen, sich dem Tor zu nähern. Der Gefangene ging zum Tor und stand vor dem Soldaten. Ich sah zu, konnte aber nicht hören, was der Soldat sagte. Der Soldat öffnete das Tor noch ein Stück und machte dem Gefangenen eine Geste, durchzugehen. Der Gefangene rannte so schnell er konnte durch das Tor und zu dem nahen Wald. Der Luftwaffe-Soldat zielte schnell mit seinem Maschinengewehr und schoss dem Gefangenen in den Rücken. Ich war wütend, dass ein Gefangener wegen eines Tricks gestorben war. Der tote Jude und sein deutscher Mörder schienen ungefähr gleich alt zu sein. Wir hatten keine Zeit zu trauern. Ein Pfiff ertönte und wir wurden in Formation angeordnet, um zu Tunnelfabrik zu marschieren. Ich ging an dem Körper vorbei, der mit dem Gesicht nach unten im Gras lag. Luftwaffe-Soldaten unterschieden sich nicht von der SS.
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Eines Tages eilte ich nach der Arbeit aus dem Tunnel, als ich ein zerknülltes Stück einer deutschen Zeitung in einem Müllhaufen sah. Ich verlangsamte meinen Schritt, um die Überschrift zu lesen. In fetten schwarzen Buchstaben stand dort FESTUNG EUROPA. Schnell hob ich die Zeitung auf und steckte es unter meine Jacke. Ich schob es unter meinen Arm und hielt es gegen meine Brust, als ich zurück zum Lager marschierte. Wir wurden in das Lager entlassen und ich rannte zu meiner Baracke. Ich kletterte auf meine Pritsche und faltete die Zeitung auf. Die ganze Überschrift war: FESTUNG EUROPA ANGEGRIFFEN! Ich las und versuchte den Artikel zu verstehen. Er war sehr verschmutzt und Teile der Vorderseite waren abgerissen. Mein Deutsch bestand aus Befehlen und Beleidigungen, die ich ertragen hatte, nicht dem ausgefeilten Schreiben eines Journalisten. Ich konnte jedoch entziffern, dass amerikanische und britische Truppen an der Küste Frankreichs gelandet waren und dass sie bald zurück ins Meer gestoßen würden. Ich konnte es kaum glauben. Ich war in Frankreich und die Alliierten waren gelandet! Ich zitterte und weinte. Ich musste jemanden finden, der den deutschen Artikel übersetzen konnte, um sicherzugehen, dass ich mich nicht irrte. Ich fand meinen Freund Motek Hoffstetter von Tyczyn und zeigte ihm die zerrissene Seite. Er sah sich die Zeitung an und umarmte mich. „Danke, Lucek! Danke!“, schrie er beinahe. „Du bringst große Neuigkeiten. Die Alliierten sind gelandet. Deutschland wird sicher besiegt werden.“ Motek studierte die Zeitung. Auf dem Stück, das ich entdeckt hatte, gab es kein Datum. „Geh und erzähl deinen Freunden die guten Nachrichten und ich werde sie meinen erzählen.“, sagte er. „Aber sei vorsichtig. Wenn die Deutschen es herausfinden, bringen sie uns um.“
Ich erzählte es meinen vertrauten Freunden und sie erzählten es anderen. Die Hoffnung wurde wiedergeboren. In dieser Nacht träumte ich von amerikanischen Cowboys und britischen Kavalleriesoldaten. In meinen Träumen hatte ich keine Angst. Die wenigen Gefangenen, die Optimisten waren, sagten voraus, dass die Alliierten jeden Tag kommen würden, bevor die Deutschen uns erschießen oder zu einem anderen Lager bringen könnten. Ich suchte in den Gesichtern der Deutschen nach Zeichen von Sorgen, aber nichts schien sich verändert zu haben.
Eines Abends bei Sonnenuntergang hörte ich Schüsse aus dem Wald. Alle blieben stehen und lauschten. Meine erste Hoffnung war, dass die Amerikaner oder Briten gekommen waren. Ich drehte mich zu meinen Freunden und Mitgefangenen um und rief aus: „Hört ihr es? Die Engländer und die Amerikaner müssen hier sein!“ „Sei nicht töricht und schrei nicht“, sagten sie. „Es ist wahrscheinlich die französische Résistance, die gegen die Deutschen kämpft. In dieser Nacht träumte ich, dass die Stacheldrahtzäune heruntergerissen wurden und dass ich mich den Franzosen anschloss, um gegen die Deutschen zu kämpfen und mich zu rächen. Am nächsten Morgen hörten wir wieder Schüsse. Ich hörte aufgeregt zu und hoffte, dass die Freiheit bald uns gehörte.
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Zwei Tage später hörte ich, dass zwei jüdische Gefangene geflohen waren. Die Deutschen hielten endlose Appelle ab, verstärkten die Wachen um das Lager und erhöhten die Anzahl der SS-Wachen. Wir dachten, dass die Gefangenen in der Nacht vom Tunnel geflohen sein müssten. Während der wenigen Stunden, die ich außerhalb des Tunnels war, durchkämmten meine Augen die Landschaft. Ich stellte mir vor, dass sie dort seien, sicher und unter dem Schutz der französischen Résistance. Ich entschloss mich, nach Chancen zur Flucht zu suchen. Ich war mir sicher, dass es hier einfacher wäre, Hilfe zu bekommen und eine Gefangennahme zu vermeiden als in Polen. Wenige Tage später brachte die deutsche Militärpolizei die beiden Geflohenen zurück. Sie trugen zivile Kleidung. Ihr Hände waren hinter dem Rücken gebunden. Einige Gefangenen fanden eine Gelegenheit mit ihnen zu sprechen. Sie waren in die Hügel geflohen und die Franzosen hatten ihnen Essen und Kleidung gegeben. Zuerst hatten sie im Wald geschlafen, aber dann hatte ein Bauer sie sich in seiner Scheune verstecken lassen. In dieser Nacht kamen die Deutschen zu der Scheune und nahmen sie gefangen. Sie waren betrogen worden. Spät in der Nacht nahm die SS die beiden Geflohenen aus dem Lager und erschoss sie.
Die deutschen Fabrikvorsteher (managers) befahlen, dass die Arbeit an einem Motorblock jetzt in weniger als acht Stunden beendet werden musste. Die Arbeiter würden die zwei großen Standbohrmaschinen in drei Acht-Stunden-Schichten bedienen. Nur sechs Gefangene konnten die Bohrmaschinen bedienen. Wir wurden getrennt von den anderen Gefangenen zum Tunnel und zurück gebracht, die in normalen Zwölf-Stunden-Schichten im Tunnel arbeiteten. Die SS entschied, dass wir jeden Tag Extrajobs für sie ausführen sollten. Vor und nach meiner Schicht im Tunnel musste ich das Lager (compound), in dem die SS-Männer lebten, putzen und fegen, ihre Autos und Lastwagen putzen und ihre Stiefel polieren. Was ich auch tat, für die SS war es nie gut oder schnell genug und sie verfluchten und schlugen mich.
Ich arbeitete am späten Nachmittag in dem von einer Mauer umgebenen Hof eines alten Bauernhauses, in dem die SS einquartiert waren. Das Quartier der SS war in einem nahegelegenen Dorf und von anderen Bauernhäusern, Scheunen und Ställen umgeben.
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Meine Aufgabe war es, alte Holzgartenmöbel zu schrubben. Ein bewaffneter SS-Man saß in einem Stuhl im Hof, um mich zu bewachen. Man gab mir einen Eimer Wasser und eine Handbürste aus Stahl. Die Möbel waren schimmelig und schwarz vom Wetter. Ich wusste, dass ich sie nicht so saubermachen konnte, dass es die SS zufriedenstellen würde und erwartete Prügel. Ich war nass und müde und die Gefangennahme und Hinrichtung der Geflohenen bedrückte mich sehr. Ich schrubbte den schwarz gewordenen Tisch; meine Ärmel waren bis zu den Ellenbogen hinauf nass. Ich hörte einen dumpfen Schlag, als ob etwas auf dem Boden aufgeprallt wäre. Der SS-Mann hatte begonnen, mit jemandem zu sprechen und ich konnte ihn nicht sehen. Ich wendete mich wieder dem nassen Tisch zu und hörte wieder den dumpfen Schlag. Ich drehte meinen Kopf und sah einen grünen Apfel, der durch das Gras rollte. Ich sah über die Mauer, die den Hof umschloss und sah nichts außer Bäume und die Dächer der benachbarten Häuser. Dann hörte ich zwei weitere dumpfe Geräusche und zwei weitere Äpfel landeten nahe dem ersten. Ich machte ein paar Schritte und hob die Äpfel auf. I legte sie in mein Hemd. Ich zog meine zerfetzte, dreckige, gestreifte Mütze ab und entblößte meinen rasierten Kopf. Die Mütze in den Händen verbeugte ich mich und hoffte, dass der anständige und großzügige Mensch meine stille, aber gefühlvolle Dankbarkeit sehen und fühlen konnte. Ich konnte nicht widerstehen, einen der Äpfel mit wenigen Bissen zu essen, selbst mit meinen kaputten Zähnen. Die anderen versteckte ich in meiner ausgebeulten Jacke und teilte sie am Abend mit meinen schockierten und erfreuten Gefangenenfreunden.
Ich arbeitete an der Standbohrmaschine im Tunnel und als Diener der SS. Eines Tages endete jegliche Arbeit in der Tunnelfabrik. Alle Nachschichtarbeiter wurden vom Lager gebracht und kamen zu uns in den Tunnel. Die deutschen Aufseher und Vormänner befahlen uns, die Maschinen zum Eingang des Tunnels zu bringen, wo wir sie auf große Lastwagen luden. Im Tunnel war nicht genug Platz für Hebebühnen (lifts) und Karren. Wir arbeiteten tage- und nächtelang mit bloßen Händen und nur wenig Essen und wenigen Pausen. Wir brachten die kleineren Maschinen zum Eingang des Tunnels, konnten die großen, schwereren aber nicht bewegen. Wir alle begriffen, dass dies einen Wiederholung von dem war, was in der Daimler-Benz-Fabrik in Rzeszów geschah, als die Russen näherkamen. Die Alliierten mussten in Frankreich sein und sich Urbis nähern. Ohne Plan und ohne ein Wort begannen die Gefangenen, die Bewegungen der Maschinerie zum Stillstand zu bringen. Wir hofften, dass die Verzögerung den Alliierten Zeit geben würde, nach Urbis zu gelangen und uns zu befreien.
Die Deutschen gaben die Maschinen auf, die sich noch im Tunnel befanden. Sie befahlen uns, sofort zu gehen. Luftwaffe-Soldaten und SS führten uns entlang der Landstraßen und nach mehreren Stunden erreichten wir einen kleinen Bahnhof. Wir wurden in Güterwagen gesteckt, die Türen schlossen und der Zug setzte sich in Bewegung. Nach ein paar Stunden hielt der Zug an einem Eisenbahndepot an;
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ich dachte, es könnte der Bahnhof in Colmar sein. Dort muss es einen Luftangriff gegeben haben, denn viele Gebäude schwelten und ein Zug auf dem nebenliegenden Gleis brannte noch. Jemand kletterte hinauf, um aus dem kleinen Fenster des Güterwagens zu schauen und stellte fest, dass der brennende Zug der war, der Daimler-Benz-Geräte aus dem Tunnel transportiert hatte. Bei einem kurzen Halt wurde die Tür geöffnet, damit wir den Latrineneimer leeren konnten und wir sahen, dass die Luftwaffe-Soldaten verschwunden waren und die SS uns bewachte. Wir machten oft lange an verschiedenen Abstellgleisen Halt. Man gab uns wenig Essen oder Wasser. Nachts wurde der Zug mit Maschinengewehren beschossen. Wir hofften, dass die Alliierten endlich da waren. Unser Güterwagen wurde von Kugeln getroffen und drei Gefangene wurden getötet. Der Zug bewegte sich langsam vorwärts und viele Gefangene starben an Hunger und Durst.
Eines Nachts fuhren wir durch einen sehr große Stadt; wir nahmen an dass es Berlin war. Es ereignete sich gerade ein Luftangriff. Häuser brannten, Schüsse dröhnten ohne Unterlass und Bomben explodierten. Ich war so müde, hungrig und durstig, dass mir all das egal war. Ich wollte nur einen Platz, um mich auszustrecken, etwas Wasser und ein Stückchen Brot. Kurz nachdem unser Zug die brennende Stadt hinter sich gelassen hatte, hielt er an einem verdunkelten Bahnhof an. Ich spürte, wie die Güterwagen vom Rest des Zuges abgekoppelt wurden.“